22. Europäischer Abend:

Europas Wirtschaft – Risse im Fundament?

Seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 stehen Stabilität und Entwicklung der europäischen Wirtschaft unter intensiver Beobachtung. Einige Mitgliedsstaaten stehen kurz vor dem Bankrott, die Arbeitslosenzahlen steigen auf ungekannte Höchststände. Insbesondere die Jugend Südeuropas gerät immer mehr in die Hoffnungslosigkeit. Zeigen sich erste Risse in Europas Fundament und wie ließen sie sich kitten? Diesen und anderen Fragen widmete sich am 16. März 2015 der 22. Europäische Abend. Wie bei den Vorgänger-Veranstaltungen hatten die Organisatoren dbb, Europa-Union Deutschland, Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement und die Vertretung der EU-Kommission in Deutschland ins dbb forum berlin eingeladen.

Wirtschaftliche Interessen seien von Anfang an Motor des europäischen Einigungsprozesses gewesen: „Die Wirtschaftspolitik des wachsenden Europäischen Staatengebildes hat aber immer darauf geachtet, auch die Schwächeren mitzunehmen“, stimmte die SPD-Bundestagsabgeordnete und Vize-Präsidentin der Europa-Union Deutschland Eva Högl, die rund 400 Gäste im dbb forum berlin auf das Thema des 22. Europäischen Abends ein. „In Zeiten der EU-Erweiterung, hoher Jugendarbeitslosigkeit und einer zunehmende Verschlechterung der sozialen Bedingungen insbesondere im Südosten Europas müssen wir uns allerdings fragen, ob unser Instrumentarium, Krisen zu begegnen, noch ausreicht,“ schloss Eva Högl ihre Begrüßung.

Günther Oettinger: Mit einer Stimme sprechen

Günther Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, verortete die Mittel, mit denen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stimmung in Europa deutlich verbessert werden könnte, im Verzicht auf nationale Alleingänge zugunsten gemeinschaftlicher Zielvorgaben, die von allen EU-Mitgliedern mitgetragen würden. „Wir brauchen zum Beispiel eine digitale Strategie in Europa mit einheitlichen hohen Datenschutzstandards. Sonst können wir nicht Schritt halten mit der Konkurrenz aus China, Japan oder den USA“, machte Oettinger gleich zu Beginn seines Impulsvortrages deutlich. Gleiches gelte für eine gemeinsame Energiepolitik. Und auch der Erfolg der Weltklima-Konferenz, die derzeit in Paris vorbereitet wird, hänge letztendlich davon ab, ob die Staaten der Europäischen Union darauf verzichteten, „mit 28 fragmentierten Zielen aufzutreten. Wenn Europa „mit einer Stimme spricht“ bieten sich nach Auffassung Oettingers weitere Chancen sowohl für ein nachhaltiges Parieren der russischen Vormachtsinteressen in Osteuropa, als auch für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik im Mittelmeerraum, die auf mehr zielt als „Schengen-Abschottung“.

Mit Blick auf die derzeit in Europa herrschenden sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen, die einen guten Nährboden für die nationalistischen Ziele rechter oder linker Populisten bereiteten, forderte Oettinger , die Mehrheitsfähigkeit der europäischen Idee zu sichern. „Europa ist nicht in Lebensgefahr. Aber es hängt vom öffentlichen Meinungsbild ab, ob es sich weiter entwickelt.“

Matthias Machnig: Zeit für Zukunftsplanung

„Die Idee Europas weitertragen und auch in diesen Tagen Kurs halten.“ Mit dieser Empfehlung leitete Matthias Machnig, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirt-schaft und Energie, seinen Impulsvortrag ein und lenkte den Blick zurück zum Ausbruch der Finanzkrise: „Europa bricht auseinander, schrieben die Medien 2008. Aber wir sind immer noch zusammen, weil wir gemeinsam agiert haben. Instrumente wie die Bankenunion haben uns sicherer gemacht. Und wir koordinieren heute besser als wir das vor der Finanzkrise getan haben. Deshalb hoffe ich, dass wir jetzt wieder verstärkt über die Zukunft Europas nachdenken können.“ Dazu gehöre ökonomisch voranzukommen, einen Energiebinnenmarkt zu schaffen und eine vernünftige Klimapolitik in die Wege zu leiten. Allergrößte Aufmerksamkeit sollte der Digitalisierung eingeräumt werden: „Hier muss es den Europäern schnell gelingen, ein Regelwerk zu entwickeln. Wir brauchen eine Verständigung, was Netzneutralität in Europa bedeutet, wie wir das Thema Datensicherheit in Konsens bringen und welche flächendeckenden Ausbauziele wir erreichen wollen.“

Auch Machnig warnte vor der Radikalisierung und Re-Nationalisierung Europas und beschwor die Überzeugungskraft der Zivilgesellschaft, der es in Deutschland gelungen sei, die Pegida-Bewegung zu stoppen. „ Es ist unsere Verantwortung als Staatsbürger, für ein Europa einzutreten, das zusammensteht. Uns sollte daran gelegen sein, in einer starken Staatengemeinschaft zu leben, die uns Schutz gibt in der globalisierten Welt.“

Panel: Proaktiv handeln, flexibel entscheiden

Bewertungen und Prognosen, sowohl zur wirtschaftlichen als auch zur allgemeinen Situation der Europäischen Union, lieferten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der von der Journalistin Annette Rollmann moderierten Podiumsdiskussion. Richard Kühnel, der Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland gab beim Thema Digitalisierung zu bedenken, dass Europa gegen die übermächtige Konkurrenz nur bestehen könne, „wenn wir etwas gemeinsames schaffen. Wir müssen proaktiv werden. Digitalisierung ist nicht nur ein Thema für die Wirtschaft, sondern auch für die Gesellschaft. Deshalb müssen wir die Balance finden. Daten zu nützen und Daten zu schützen.“ Der stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach erinnerte in diesem Zusammenhang an die Schwierigkeiten, die das Thema Datenschutz allein im föderalistischen Deutschland aufwerfe: „Wir haben in Deutschland schon 17 Datenschutzgesetze. Das bedeutet, 17mal das Rad zu erfinden um Regeln zur Digitalisierung zu erarbeiten. Es wird schwierig, das in einen europäischen Kontext zu bringen.“

Die ARD-Fernsehjournalistin Marion von Haaren mahnte in der Bewertung der gegenwärtigen Griechenland-Krise zur Zurückhaltung: „Ich bin ein bisschen enttäuscht, wie ungeschickt einige europäische Politiker agieren. Wir Deutsche müssen einfach lernen, dass nicht jede Medizin, die wir für richtig halten, überall hilft. Man kann nicht nur in Euro und Cent rechnen und die soziale Misere komplett ausblenden.“ Linn Selle, Preisträgerin „Frauen Europas“ kritisierte die untergeordnete Rolle, die junger Politik beigemessen werde. „Die Stimme der Jugend wird in der Debatte über Jugendarbeitslosigkeit viel zu wenig gehört. Junge Menschen sind die Hauptleidtragenden der aktuellen Situation. 60 Prozent sind von der Politik abgehängt. Ich denke, das ist ein europäisches Zivilisationsproblem.“ Einen Blick von außen auf europäisches Politikgeschehen lieferte der amerikanische Wirtschaftsjournalist Andreas Kluth, der Europa eine „sehr defensive Tonart“ attestierte und daraus den Schluss zog , dass „eine Gesellschaft, die defensiv ist und Angst vorm Risiko hat, spart und nicht investiert.“ Deshalb werde Europa in zehn Jahren nicht sehr dynamisch aussehen: „Es passt das Bild des Schlafwandlers, der in noch schlimmeres hinein wandelt.“

Als wollte er diese Prognose entschärfen, appellierte dbb Chef Klaus Dauderstädt in seinem Schlusswort nochmals an den europäischen Willen zum gemeinsamen Handeln: „Wir in Europa sollten mehr darüber nachdenken, wie wir den Krisen-Ausgang finden. Unsere europäische Wirtschaft ist schon zu interdependent, als dass jede Nation allein agieren kann.“

 

zurück