23. Europäischer Abend:

(K)ein neues Zeitalter der Extreme!

„Demagogen, Populisten und Fanatiker – Ein neues Zeitalter der Extreme“ lautet der Titel des 23. Europäischen Abends, der am 2. November 2015 als Kooperationsveranstaltung des dbb beamtenbund und tarifunion, der Europa-Union Deutschland, des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement und der deutschen Kommissions-Vertretung im dbb forum berlin stattfand. Am Ende der Vorträge und Diskussionen waren die rund 400 Teilnehmenden im Plenum sich mit den Fachleuten auf dem Podium einig: Deutschland und Europa müssen der Entstehung und Fortentwicklung extremistischer Bewegungen gleich welcher Richtung entschieden Einhalt gebieten.

„Die freiheitliche demokratische Grundordnung in Europa wurde selten so herausgefordert wie heute“, umriss der dbb Bundesvorsitzende Klaus Dauderstädt in seiner Begrüßung die Dimension, die das Erstarken extremistischer Aktivitäten aktuell angenommen hat.

Gleichzeitig, so Dauderstädt weiter, sinke die Wahlbeteiligung kontinuierlich. „Wir müssen uns also Gedanken machen über Wahlmüdigkeit und Desinteresse am Staat. Wir müssen uns fragen, wozu Kürzungen bei Gehältern und Renten, hohe Arbeitslosigkeit – besonders bei Jugendlichen – Überschuldung und Sparpolitik führen. Politik und Gesellschaft müssen auch die Ängste, die es angesichts der Flüchtlingskrise gibt, ernstnehmen.“ Das dürfe aber nicht heißen, „dass wir menschenverachtende Parolen akzeptieren“, machte der dbb Chef deutlich. „Das darf uns nicht dazu verführen, an die Stelle der nach Schengen abgerissenen Schlagbäume quer durch Europa wieder Mauern und Zäune zu errichten.“

Die Mitarbeiter des viel gescholtenen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die Polizei des Bundes und der Länder, die Sozialverwaltung, allen voran die Kommunalverwaltung und – wenn es nach der Erstaufnahme um Integration geht – Erzieher/innen in den Kitas, Lehrerinnen und Lehrer oder auch die Bediensteten der Bundesagentur für Arbeit: „Sie alle leisten in diesen Wochen und Monaten unendlich viel dafür, dass Deutschland diese Herausforderung bewältigt“, unterstrich Dauderstädt und forderte rasch politische Konsequenzen: „Damit die Integration der Flüchtlinge gelingt, braucht Deutschland in vielen Bereichen der Verwaltung mehr Personal, sehr viel mehr Personal. Außerdem müssen wir diskutieren, ob unsere geltende Finanzverfassung revidiert werden muss, damit der Bund den Kommunen direkt helfen kann.“

Problem europäischer Gesellschaften?

Thea Dorn, Autorin und Philosophin, und Prof. Dr. Peter Neumann, Leiter des International Centre for the Study of Radicalisation am King’s College in London, stellten sich unter Moderation der Journalistin Constanze Abratzky der Frage, „Wie viel Extremismus steckt in Europas Gesellschaften?“. Der Blick auf mehrere Jahrhunderte Geschichte zeige, dass die Deutschen „schon immer“ sowohl Extremisten als auch ausgeglichene Charaktere hervorgebracht hätten, leitete Thea Dorn das Thema aus ihrer Sicht ein und nannte als „Hitzköpfe“ Martin Luther und Heinrich von Kleist – ein „Franzosenfresser“, so Dorn. Das Gründungsmantra der Bundesrepublik laute indes „Wir wollen ein besonnenes, ausgewogenes Land sein“, wonach ja auch mehrheitlich gelebt und regiert werde.

Auch Wissenschaftler Neumann mochte keinen nachhaltigen Trend zum Extremismus in der deutschen Gesellschaft erkennen: Die „Alternative für Deutschland“ (AfD) habe im großen und ganzen keine großen Erfolge zu verzeichnen, „das sieht in anderen europäischen Ländern ganz anders aus, beispielsweise in Schweden, Dänemark oder Frankreich, wo rechte Parteien starke Zuwächse erfahren“. Auch mit Blick auf deutsche Dschihadisten, die sich den islamistischen Kämpfern im arabischen Raum anschließen, liege die Bundesrepublik im Verhältnis der Fall- zur Einwohnerzahl eher im Mittelfeld der betroffenen Staaten, erläuterte der Radikalismusforscher.

Philosophin Dorn bereiten gleichwohl zwei Entwicklungen Sorge: Zum einen, wie man mit den bereits radikalisierten Extremisten in Deutschland umgehe, die es ja zweifelsfrei gebe. Zum anderen, wie man die großen Teile der „Mitte der Gesellschaft“, der bürgerlichen Schicht, die durch die fortschreitende „Linksdrift“ der bislang deutlich konservativeren Unionsparteien heimatlos würden, davor bewahrt, sich zu radikalisieren. „Man darf diese sich parteipolitisch nicht mehr verankert fühlenden Menschen nicht mit ihren berechtigten Sorgen rundweg ablehnen, nicht einfach in die rechte Ecke stellen“, so Dorn, „dann landen die nämlich wirklich bei Pegida“.

Die Autorin appellierte mit Nachdruck, dass Regierungen ebenso wie das gesamtgesellschaftliche Klima Ängste und Sorgen, die sich mit Blick auf den Islam einstellten, ernstnehmen müssten. „Wir brauchen besonnene Politiker, die auch den Mut haben, Klartext zu reden.“ Ein ‚wir schaffen das‘ sei als Motivation gut, „aber viele fragen sich angesichts der fehlenden Konkretisierung, in welchem Kuckucksheim diese Frau überhaupt lebt“, sagte Dorn in Richtung Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr mittlerweile geflügeltes Wort zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. „Wir brauchen eine besonnene humane Härte und Stärke, damit die Menschen nicht den Eindruck gewinnen, hier kann jeder herkommen und machen, was er will. Wir brauchen einen klaren, strengen Kurs, der unsere westlichen moralischen Werte deutlich macht und schützt. Wir müssen klar machen, dass wir alle Menschen anderer Kulturen, die zu uns kommen, schätzen und respektieren, dass es aber möglicherweise auch Ausprägungen ihrer Lebensart gibt, die hier nicht gehen“, unterstrich Thea Dorn.

Peter Neumann verwies auf die rasante Transformation aller westeuropäischen Gesellschaften in den vergangenen Jahren als eine Ursache für Verunsicherung, der Polarisierung und Radikalisierung oft folgten: „Sowohl in politischer wie auch in ökonomischer und soziologischer Hinsicht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger fast alles geändert für die Menschen.“ Die Konsequenz seien natürlicherweise Ängste um die eigene Identität und Kultur und das weit verbreitete Gefühl, dass „die da oben“ die Menschen nicht mehr repräsentieren. Neumanns Sorge: Ein Ansteigen der terroristischen Anschläge, ein Hochschaukeln der Extreme, eine Polarisierung. „Das Muster der kleinen, aber schockierenden und polarisierenden Anschläge wird sich fortsetzen“, ist sich der Wissenschaftler sicher. Um dem entgegenzuwirken, war er in Ergänzung zu Thea Dorn für eine differenzierte Diskussion in jeder Hinsicht. Denn: „Nicht alle sind gleich, auf allen beteiligten Seiten. Manche Ängste sind berechtigt, andere nicht. Auch Ängste müssen differenziert werden, man muss einander verstehen lernen. Und zu unserem klar definierten Wertekanon gehört auch zu sagen, dass der, der danach lebt, unsere Werte verinnerlicht, dann auch zu uns gehört.“

Abwehr durch europäische Zusammenarbeit

Dr. Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, fand in seinem Lagebericht „Europäische Zusammenarbeit in der inneren Sicherheit – Abwehr extremistischer Gefahren“ klare Worte: „Angesichts der internationalen Vernetzung von Extremisten und Terroristen brauchen wir eine stärkere Zusammenarbeit der europäischen Nachrichtendienste. Die EU ist eine Schicksalsgemeinschaft. Ihre offenen Binnengrenzen haben einen gemeinsamen Gefahrenraum geschaffen, den wir nur gemeinsam sichern können.“ Neben der massiven Stärkung der europäischen Grenzschutz-Agentur Frontex plädierte der Staatssekretär auch für engen sicherheitspolitischen Austausch mit EU-Anrainer-Staaten wie beispielsweise der Türkei. „Ein Europa ohne effektiv gesicherte Außengrenzen ist schließlich wenig mehr als ein Europa geschlossener Binnengrenzen.“

Mit großer Aufmerksamkeit beobachteten die deutschen Sicherheitsorgane die Entwicklung radikaler Strömungen im Inland, so Krings weiter. „Von den 21.000 Rechtsextremisten in Deutschland ist jeder zweite gewaltbereit. Hinzu kommt, dass die Extremisten von links und rechts sich gegenseitig immer mehr aufstacheln.“ Abschließend würdigte der Innenstaatssekretär das Engagement des öffentlichen Dienstes insbesondere bei der Aufrechterhaltung der Inneren Sicherheit. „Die Kolleginnen und Kollegen der deutschen Sicherheitsbehörden leisten hervorragende Arbeit. Um gravierende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft zu verhindern, müssen sie die verschiedenen extremistischen Strömungen in einem breiten Ansatz bekämpfen. Wir müssen sicherstellen, dass sie über alle nötigen Instrumente verfügen können.“

Frage nationaler Wehrhaftigkeit?

Die Frage, wie wehrhaft Europa gegen Extremismus aufgestellt ist, diskutierten – wieder unter Moderation von Constanze Abratzky – der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele und der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) Rainer Wendt. Ströbele , der seit 2002 dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Deutschen Bundestages zur Überwachung der deutschen Nachrichtendienste Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst angehört, bezeichnete bestimmte sicherheitspolitische Instrumente zur Extremismusabwehr, vor allem die Vorratsdatenspeicherung, als problematisch: „Nehmen wir als Beispiel die Aktivitäten des NSU, des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds mit Morden an Mitbürgern mit ausländischen Wurzeln. Hier haben die innerdeutschen Sicherheitsbehörden total versagt. Und die viel beschworenen Zusammenarbeit mit der Türkei oder den USA, die hat es immer gegeben. Ich frage mich allerdings, wie gut diese Zusammenarbeit ist und wie viel Missbrauch betrieben werden kann.“

Für den Polizeigewerkschafter Rainer Wendt spielt die Vorratsdatenspeicherung hingegen eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung organisierter Täterstrukturen, gerade im Extremistenbereich. Er bedauerte, dass diese Erfolge von Politikern negiert würden, „die das Misstrauen zu ihrem Programm gemacht haben.“ Auch sei die Zusammenarbeit europäischer Sicherheitsexpterten besser als ihr Ruf, betonte Wendt.

Bei der Bewertung, welche Maßnahmen den Flüchtlingszustrom eindämmen und so der Ausbreitung rechtsextremistischer Gewalttaten Einhalt gebieten könnten, bezogen die Diskutanten gleichfalls weit entfernt liegende Positionen.

Wendt nannte die in der Bundesregierung kontrovers diskutierten sogenannten Transitzonen vor allem sprachlich ungeschickt. Ob Transitzone, oder wie von der SPD favorisiert Willkommenszone. Man streite nur um Worte. „Wichtig ist doch, dass wir die Situation der Flüchtlinge verbessern. Hierzu gehört auch, dass der Platz, der Schutzbedürftigen gebührt, nicht durch Leute belegt sein darf, die keine Hilfe brauchen. Außerdem ist es höchste Zeit, die Position der Einsatzkräfte zu verbessern, die am Rande der Erschöpfung arbeiten müssen.“

Ströbele bezeichnete die „Transitzonen-Diskussion“ als „Schaupolitik, die nichts bringt. „Man sollte den Tatsachen ins Auge sehen: Wenn man Willkommen leben will, gibt es Wege die rund 100 000 kriegstraumatisierten Syrer und Afghanen nicht ins Asylverfahren zu schicken. Man kann ihnen statt dessen eine Aufenthaltserlaubnis für drei oder vier Jahre erteilen. Dann kann man sich um schwierige Fälle kümmern und überlegen, gemeinsam mit den EU-Partnern Aufnahmeeinrichtungen an den EU-Außengrenzen zu schaffen, in denen wir den Menschen ihre Hoffnung auf einen Weg in die EU bahnen können.“

Menschenwürde im Blick behalten

Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Abgeordnete des Europäischen Parlaments und Vorsitzende der Europa-Union Berlin, dankte in ihrem Schlusswort für die Analysen und Einschätzungen zum Extremismus-Problem und forderte die Gäste des 23. Europäischen Abends auf, aktiv bei der Stärkung der Zivilgesellschaft mitzuwirken. „ Es darf und muss über alles diskutiert werden. Bei extremistischer Hetze und Hassparolen gilt aber: Null Toleranz“, bekräftigte Kaufmann. „Wenn die Würde des Menschen in Gefahr ist, sind wir alle gefordert. Ich wünsche mir, dass nicht etwa ein neues Zeitalter der Extreme anbricht, wie es das Thema des Europäischen Abends umschreibt, sondern ein Zeitalter der Humanität.“

 

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