Europa als Beweis, dass man Frieden lernen kann: Chancen und Voraussetzungen einer europäischen Friedenspolitik

Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Das ist eine Situation, die vielen noch vor kurzer Zeit unvorstellbar erschien – und doch ist sie eingetreten. Durch diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ist das Haus Europa bedroht. Die Europäische Union steht zwar geeint an der Seite der Ukraine, verurteilt die militärische Aggression aufs Schärfste, doch nun ist endgültig klar: Wir sind nicht mehr nur von Freunden umgeben.

Während sich vor unseren Toren ein Krieg abspielt, liegt ein anderes außenpolitisches Ereignis, das Europa aufgerüttelt hat, noch gar nicht lange zurück: der Fall Afghanistans und die Machtübernahme durch die Taliban. Das Nation Building im Land, ein Projekt, das 20 Jahre andauerte, ist gescheitert. Durch den überhasteten Rückzug blieben dabei die engsten Verbündeten der westlichen Akteure auf der Strecke: die Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich unermüdlich für die afghanische Zivilgesellschaft, Frauenrechte und Demokratie eingesetzt hatten. Viele von ihnen konnten das Land nicht mehr rechtzeitig verlassen, verstecken sich jetzt und müssen um ihr Leben bangen. Wie das geschehen konnte, dazu muss sich auch die EU viele Fragen gefallen lassen.

Und dennoch: Weltweit blicken Menschen auf die EU als Verteidigerin universeller Werte. Die Geschichte der EU, die errichtet wurde auf den Ruinen des 2. Weltkriegs und inzwischen enger verzahnt ist denn je, gibt Menschen in aller Welt Hoffnung, die teilweise seit Jahren und Jahrzehnten von Krise zu Krise leben. Als ich mit Anfang 20 als Austauschstudentin in die Philippinen reiste, in eine Gegend, in der seit 40 Jahren Bürgerkrieg herrscht, wurde mir dies zum ersten Mal richtig klar. Ein Friedensaktivist sagte damals zu mir: „Europa ist für uns der Beweis, dass man Frieden lernen kann. Immer, wenn bei uns wieder einmal ein Friedensabkommen scheitert, dann erinnern wir uns daran, dass auch Menschen, die einst die schlimmsten Feinde waren, konstruktiv zusammenarbeiten können.“

Keine Rüstungsdeals mit Diktatoren!

Wie aber kann die EU diesen Hoffnungen gerecht werden, die so viele Menschen in sie setzen? Wie kann sie nicht nur als Vorbild dienen, sondern Frieden, Demokratie und Menschenrechte weltweit fördern?

Die Basis unseres Handelns muss zunächst sein, diejenigen zu unterstützen und zu schützen, die in ihren Heimatländern für Freiheit und Grundrechte einstehen. Das sind Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und all diejenigen, die in Krisen- und Konfliktsituationen nicht den Schritt hin zum Krieg, sondern zur Deeskalation gehen wollen. Etliche Verbesserungen für diese Personengruppen wären von EU-Seite aus relativ einfach umzusetzen, zum Beispiel eine erleichterte Visavergabe für Menschenrechtsverteidiger*innen, sodass diese sich einfacher mit Aktivist*innen in der EU persönlich austauschen oder bei Gefahr schneller ausreisen können.

Wenn wir als EU glaubwürdig sein wollen, dann müssen wir uns allerdings zudem an unseren eigenen Maßstäben messen. Unfaire Handelsabkommen, durch die die Märkte unserer Handelspartner im globalen Süden mit billigen europäischen Produkten überschwemmt werden, müssen damit ebenso der Vergangenheit angehören wie eine rein auf Abschreckung bedachte Asylpolitik oder Rüstungsdeals mit Diktatoren. Es ist zutiefst unmoralisch, wenn europäische Rüstungsunternehmen indirekt an Kriegen verdienen, die Fluchtbewegungen auslösen – und die Geflüchteten dann auf dem Weg nach Europa ihr Leben verlieren oder an den europäischen Grenzen abgewiesen werden.

Stärke durch Geschlossenheit – statt Selbstsabotage

Die EU ist immer dann stark, wenn sie geschlossen handelt. Das zeigen Beispiele wie die Datenschutzgrundverordnung, die gemeinsame Haltung der EU im durch den damaligen
US- Präsident Donald Trump ausgelösten Handelsstreit oder auch europäische Sanktionen. So ermöglicht ein im letzten Jahr eingeführter EU-Sanktionsmechanismus, Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen rasch und gezielt mit wirksamen Sanktionen zu belegen.

Sobald es aber keine gemeinsame europäische Linie gibt und jeder Mitgliedsstaat seine eigenen Ziele verfolgt, sabotiert sich die EU selbst. Das gilt für die Außen- und Verteidigungspolitik genauso wie in Situationen, in denen eine geeinte EU durchaus politischen Einfluss ausüben könnte.

Nehmen wir den Fall Vereinigte Arabische Emirate und den Krieg im Jemen: Während Deutschland und andere EU-Staaten aufgrund der dramatischen Situation im Jemen einen Exportstopp für Waffen für diejenigen Länder erlassen haben, die sich am dortigen Stellvertreterkrieg militärisch beteiligen, hat Frankreich gerade im letzten Jahr 40 Rafale-Kampfflugzeuge an die Vereinigten Arabischen Emirate verkauft – genau das Modell, mit dem es immer wieder zu schweren Angriffen im Jemen kam. 

Ein anderes Beispiel ist Libyen: Hier unterstützt die EU offiziell die von den Vereinten Nationen anerkannte Regierung in Tripolis und den UN-Friedensprozess, tatsächlich macht aber jeder Mitgliedstaat, was er will. Italien kooperierte lange – auch militärisch – mit der Regierung in Tripolis, Frankreich rüstete, indirekt über Ägypten, deren Gegenspieler Khalifa Haftar aus. Berlin versuchte noch vor zwei Jahren, einen Friedensprozess in Gang zu bringen, eine EU-Mission soll das Waffenembargo im Mittelmeer überwachen. Gleichzeitig wartet Airbus weiter Militärflugzeuge der Türkei, die nachweislich eben jenes Waffenembargo brechen. Bei so vielen unterschiedlichen nationalen Interessen kann man wohl kaum von einer europäischen Außenpolitik sprechen. 

Eine selbstbewusste EU als Gegenpol zu Autokraten und Diktatoren

Auch Deutschland handelt teilweise vor allem im nationalen Interesse. So hat es entgegen der Wünsche seiner europäischen Partner lange am Projekt Nord Stream 2 festgehalten, das die geopolitische Abhängigkeit von Russland noch weiter steigert – und erst jetzt, mit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, die Inbetriebnahme der Gaspipeline ausgesetzt.

Wann immer sich die EU allerdings auseinanderdividieren lässt, werden nicht die jeweiligen Mitgliedstaaten in ihrer Position stärker – sondern alle gemeinsam schwächer. Das nützt Autokraten und Diktatoren weltweit, denen eine selbstbewusste EU, die sich für demokratische Werte, Frieden und Menschenrechte einsetzt, ein Dorn im Auge ist. Die einzelnen europäischen Länder sind auf der Weltbühne nur Leichtgewichte – Frankreich und Deutschland eingeschlossen. Nur gemeinsam kann die EU etwas bewegen.

Was also ist die Lösung? Die EU-Mitgliedsstaaten müssen in Zukunft verstärkt dort zusammenarbeiten, wo sie dazu bereits in der Lage ist. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten „Battle Groups“, die für Erstmissionen in einer Krisenregion gedacht sind. Warum wurde diese bisher nie eingesetzt? Die EU verfügt ebenfalls über eine gemeinsame Evakuierungseinheit. Warum wurde sie im Fall Afghanistan nicht aktiviert? Stattdessen handelten Mitgliedstaaten bei den Evakuierungen vor allem allein, mit den bereits beschriebenen Folgen. Hier muss sich künftig etwas ändern.

Transparenz und bessere Kontrolle bei Rüstungsexporten

Die EU muss darüber hinaus auch beim Thema Rüstungsexporte eine entscheidende Rolle spielen. Derzeit werden Ausfuhrentscheidungen für in der EU hergestellte Waffen auf nationaler Ebene getroffen. Von den Mitgliedstaaten wird dabei erwartet, dass sie sich an den so genannten „Gemeinsamen Standpunkt“ halten. Dieser legt acht Kriterien für den Export von Waffen in Länder außerhalb der EU fest und zielt darauf ab, Waffenexporte in Krisenregionen oder Exporte, die zu Menschenrechtsverletzungen beitragen, zu verhindern. Allerdings werden die Kriterien derzeit von jedem EU-Mitgliedstaat anders ausgelegt. Das führt zu Schlupflöchern im System oder zu unterschiedlichen, manchmal sogar widersprüchlichen nationalen Exportentscheidungen und -praktiken – das Beispiel Vereinigte Arabische Emirate wurde bereits erwähnt. Die EU forciert derzeit eine engere Kooperation der Mitgliedsländer im Bereich Rüstung. Dies muss allerdings Hand in Hand gehen mit mehr Transparenz und einer besseren Kontrolle der Ausfuhr von Rüstungsgütern auf der EU-Ebene – inklusive der Einbeziehung des Europäischen Parlaments.

Im Fall der Sanktionen gegen Russland wurde gemeinsam und erstaunlich schnell gehandelt. Hier hat sich wieder gezeigt, wie schlagkräftig die EU als Ganzes sein kann. Das muss uns aber auch in anderen Krisensituationen, auch wenn sie weniger dramatisch sind, besser gelingen. Eine Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik ist nur möglich, wenn die Mitgliedstaaten in entscheidenden Politikbereichen nationale Souveränität abgeben. Das mag im Einzelfall schmerzhaft sein – ist aber in jedem Fall der Alternative vorzuziehen, nämlich, mittelfristig in der weltpolitischen Bedeutungslosigkeit zu versinken. Ein wichtiger Schritt in diesem Zusammenhang wäre, sich bei Abstimmungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vom Zwang zur Einstimmigkeit zu verabschieden, und Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit einzuführen.

Und die EU hat noch eine weitere Mammutaufgabe vor sich: die Bekämpfung des Klimawandels. Mit dem sogenannten „Green Deal“ hat die EU einen Plan ausgearbeitet, wie sie bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent werden kann. Leider gibt es aber bisher keine Strategie für die Frage, wie wir der Klimakrise auch durch unser außenpolitisches Handeln entgegentreten können. Die EU ist nur für neun Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich, daher ist klar: Wir müssen alle mit ins Boot holen.

Eine klimagerechte Welt für alle

Das ist nur möglich, wenn wir gemeinsam und weltweit zusammenarbeiten. Hierbei geht es nicht um Wettbewerb – wir können nur durch Kooperation erfolgreich sein. Dabei muss das Hinarbeiten auf eine klimagerechte Welt für alle auch als Friedenspolitik verstanden werden. Schließlich werden zukünftige Kriege und Konflikte durch den Klimawandel im wahrsten Sinne des Wortes angeheizt werden, durch Auseinandersetzungen um Trinkwasser und Fluchtbewegungen aufgrund steigender Meeresspiegel und Desertifikation von vormals fruchtbarem Land.

Die Erzählung vom Friedensprojekt Europa wird für die junge Generation immer abstrakter und geht langsam verloren. Gleichzeitig hat es für die Menschen in Ländern um uns herum nach wie vor hohe Anziehungskraft. Daher müssen wir den Hoffnungen, die in uns gesetzt werden, konsequenter gerecht werden. Gleichzeitig müssen in Zukunft neue Argumente für die EU diese Erzählung ergänzen. Eine europäische Friedenspolitik, die ihrem Namen gerecht wird und sich der Aufgabe des Klimawandels konsequent stellt, kann genau eine solche Vision sein – sie würde nicht nur die Erwartungen von außen erfüllen, sondern auch nach innen identitätsstiftend wirken.

Hannah Neumann ist promovierte Politikwissenschaftlerin, Konfliktforscherin, für Bündnis 90 / Die GRÜNEN Mitglied im Europäischen Parlament und stellvertretende Vorsitzende des Europa-Union Landesverbands Berlin

 

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