Rechtspfleger in Europa

„Rechtspfleger“ ist ein schönes deutsches Wort, das sich kaum in eine andere Sprache übersetzen lässt. Es stammt aus der deutschen und österreichischen Justizverwaltung, wo Rechtspfleger bestimmte Justizaufgaben von den Richtern übernommen haben.

von Vivien Whyte

Vergleichbare Berufe gibt es in zehn weiteren EU-Mitgliedstaaten. Diese sind Dänemark, Estland, Irland, Kroatien, Polen, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn. Vivien Whyte ist Präsident der „European Union of Rechtspfleger“ (EUR). Die EUR vertritt die Berufsgruppe der Rechtspfleger und vergleichbarer höherer Justizbediensteter in Europa. Im folgenden Beitrag schildert Whyte die Entwicklung dieses wichtigen Justizberufs und gibt Einblick in aktuelle europäische Herausforderungen.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Der Beruf des Rechtspflegers ist in jedem EU-Mitgliedstaat anders organisiert. Es werden auch sehr landesspezifische Bezeichnungen verwandt. In Spanien heißen die Rechtspfleger „Letrados de la Administración de Justicia“, also Anwälte der Justizverwaltung. In Polen ist der Rechtspfleger ein Gerichtsreferendar, „Referendarz Sadowy“, in Dänemark als „Retssekretær“ stellvertretender Richter. Auch die Ausbildungswege unterscheiden sich. Die Zugangsberechtigungen reichen je nach Land vom Abitur bis zum Hochschulabschluss in Rechtswissenschaften. In der Regel erfolgt die eigentliche spezialisierte Ausbildung durch eine regionale oder zentralstaatliche Einrichtung. Trotz dieser Unterschiede haben alle Rechtspfleger und die ihnen zuzurechnenden Berufe gemeinsam, dass sie an den Gerichten tätige öffentlich Bedienstete sind, die die Kompetenz haben, bestimmte gerichtliche Entscheidungen zu treffen.

Wirksames Mittel für bessere Gerichte

Der Beruf des Rechtspflegers ist das Ergebnis grundlegender Justizreformen, die auf eine Rationalisierung der Gerichtsmaschinerien abzielten. Die Notwendigkeit einer wirksamen Rationalisierung wurde bereits 1986 vom Ministerkomitee des Europarats herausgestellt, als er Empfehlung R (86) 12 über bestimmte Maßnahmen zur Verhinderung und Verringerung einer übermäßigen Arbeitsbelastung der Gerichte verabschiedete. In der Begründung dieser Empfehlung bezog sich das Ministerkomitee ausdrücklich auf das deutsche und österreichische Modell des Rechtspflegers als mögliche und praktikable Lösung. Die Gründe der Empfehlung beziehen sich zunächst vor allem auf interne Abläufe des Justizsystems, sie haben aber auch externe Implikationen. Die Öffentlichkeit insgesamt ist betroffen, wenn die Gerichte überlastet sind. Tatsächlich zeigt die Erfahrung, dass Rechtspfleger dazu beitragen, die Arbeitslast der Richter signifikant zu reduzieren, so dass letztere sich ganz auf ihre Hauptaufgabe konzentrieren können, Recht zu sprechen. In der Mehrzahl der Fälle, die vor Gericht kommen, bewirken sie eine Beschleunigung der Verfahren. In der Tat ist der Rechtspfleger das wirksamste Mittel für eine bessere Funktionsweise der Gerichte.

Aber das ist längst nicht alles. Heute leben und arbeiten zwölf Millionen EU-Bürger in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Jedes Jahr kommt eine halbe Million EU-Bürger dazu. Dieser Langzeittrend dürfte viele weitere Jahre anhalten. Nationale, regionale und lokale Verwaltungen sowie Arbeitnehmer und Bürger ganz allgemein werden sich der durch die EU geschaffenen Rechte immer bewusster. Sie werden sich zur Klärung ihrer europäischen Rechte vermehrt an ihre örtlichen Gerichte wenden. Und örtliche Gerichte sind, wenn sie EU-Recht schützen, europäische Gerichte. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber auch der freie Verkehr von Dienstleistungen, Kapital und Waren ist die Basis der Europäischen Union. Letztere gründet ihre Macht nicht auf eine europäische Polizei oder eine europäische Armee, sondern auf die bloße Rechtsstaatlichkeit.

An vorderster Front

In der EU der Freizügigkeit stehen die Rechtspfleger und vergleichbare nichtrichterliche Justizberufe an vorderster Front. Die Rechtspfleger erfüllen justizielle Pflichten in Gebieten, die den Bürgern in ihrem alltäglichen Leben sehr wichtig sind, wie zum Beispiel: unstrittige Fälle, die Vollstreckung zivil– und strafrechtlicher Entscheidungen, Zahlungsaufträge, Familienrecht, Rechtshilfe und Grund– und Gewerberegister, die für das gute Funktionieren der Wirtschaft notwendig sind.

Mit der Entwicklung grenzüberschreitender Gerichtsverfahren leisten die Rechtspfleger einen enormen Beitrag zur Vollendung des europäischen Binnenmarkts. In vielen EU-Staaten sind sie es, die im Rahmen von EU-Instrumenten wie dem Europäischen Erbschein, der Europäischen Vollstreckungsanordnung oder des Europäischen Mahnverfahrens Auszüge, Zertifikate oder Zulassungen gewähren. Die Rechtspfleger haben sich neben den Richtern zu Spezialisten entwickelt, während immer mehr EU-Bürger auf nationaler und internationaler Ebene Zugang zur Justiz suchen und finden.

Die Rechtspfleger und vergleichbare nichtrichterliche Berufe sind von großer Bedeutung für das Vertrauen der Bürger in ihre Justizsysteme. Die Rechtspfleger sind die Schnittstelle zwischen beiden. Sie sind diejenigen, denen die Bürger vor Gericht zuerst begegnen. Es sind die Rechtspfleger, die den Menschen das ihnen oftmals ferne Rechtssystem nahebringen. Sie sind es, die das Gerichtswesen im wahrsten Sinne des Wortes managen. Sie betreiben Personalmanagement, sie führen neue Informations– und Kommunikationstechnik ein. In einigen Staaten gewährleisten sie die Legalität der Gerichtsverfahren, beglaubigen sie die Handlungen von Richtern. Und in mindestens zwölf Mitgliedstaaten tun sie noch viel mehr als das. Sie spielen neben den Richtern eine Schlüsselrolle.

Hin zu gemeinsamen EU-Standards

Die Verbindung zwischen einer effizienten Justiz und einem effizienten Binnenmarkt ist heute offensichtlich. Ebenso verhält es sich mit gemeinsamen Standards zwischen den Berufen bei den Gerichten. Das ist ein wichtiger Beitrag zu den aktuellen Bemühungen um einen Europäischen Raum der Justiz mit gemeinsamen Verfahren, Institutionen und Rechtsberufen, die den Bürgern aller EU-Staaten die gleichen Garantien ihrer Personen, ihres Eigentums und ihrer Rechte sicherstellen.

Es gibt bereits gemeinsame Werkzeuge und sogar einen Europäischen Staatsanwalt. Aber die Bürger mögen sich nicht immer ihrer Rechte als Verbraucher, Arbeitnehmer oder Geschäftsleute bewusst sein. Und wenn sie es sind, gilt das nicht unbedingt immer für die an einem örtlichen Gericht Bediensteten. Sie sind nicht notwendigerweise gut darauf vorbereitet, sowohl als örtliches als auch als europäisches Gericht zu funktionieren. Richtern und Rechtspflegern sollte dies bewusster sein, was bedeutet, dass Ausbildungs– und Studiengänge angepasst und erweitert werden müssen.

Rechtspfleger spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Verbrauchern, Geschäftsleuten, Arbeitnehmern und Bürgern dabei zu helfen, europäisches Recht besser zu verstehen. Sie sind von entscheidender Bedeutung bei der Entlastung der Richter, besonders in Zivilsachen, mit anderen Worten in einem sehr wichtigen Bereich des EU-Binnenmarkts. Sie spielen daher eine wichtige Rolle bei der Freisetzung des Binnenmarktpotentials für mehr, nachhaltiges und faires Wachstum.

Zeit für den Rechtspfleger für Europa

Indes fehlt es in der EU bis heute an einer Politik für den Beruf des Rechtspflegers beziehungsweise seiner europäischen Entsprechungen. Die Europäische Kommission hat sich bisher nur mit dem EU-Recht als Ausbildungsinhalt für die Rechtspfleger und andere juristische Berufe befasst. Dieses Fehlen einer Politik spiegelt sich in EU-Dokumenten wie etwa zum EU-Justizbarometer, das die Rolle der Rechtspfleger in den Justizsystemen nicht thematisiert. Wenn etwa Vergleichsdaten zu Richterstellen erhoben werden, ohne das Vorhandensein von Rechtspflegern zu berücksichtigen, wirken Vergleiche zwischen Staaten mit und ohne Rechtspfleger ernsthaft voreingenommen.

2016 veröffentlichte die European Union of Rechtspfleger (EUR) ein Weißbuch für einen europäischen Rechtspfleger. Basierend auf guten Praktiken lädt unser Weißbuch die Regierungen dazu ein, einen Rechtsberuf zu schaffen oder zu stärken durch einen gemeinsamen Standard, definiert als „Rechtspfleger for Europe“. Der „Rechtspfleger for Europe“ basiert auf vier Kompetenzen: gerichtliche Entscheidungen zu treffen, Gerichte zu managen, Streitparteien über Gerichtsverfahren zu informieren und Mediationsverfahren durchzuführen. Das Weißbuch führt aus, dass Staaten, die sich für den Rechtspfleger oder ein vergleichbares Berufsbild entschieden haben, herausragende Beispiele dafür sind, dass die Richter auf diese Weise in ihrer Mission gestärkt werden.

Rechtspfleger und vergleichbare Berufe sind ein großer Vorteil für die Justizsysteme. Sie erlauben es den Richtern, sich voll und ganz auf die komplexen, strittigen Verfahren zu konzentrieren. Sie mindern oder verhüten übermäßige Arbeitsbelastung an den Gerichten. Sie gewährleisten den Bürgern qualitativ hochwertige Entscheidungen, die in angemessenen Fristen von unabhängigen, spezialisierten Fachkräften getroffen werden. Damit erhöhen sie auch das öffentliche Vertrauen in die Justiz, was eine wichtige Grundlage für die Rechtsstaatlichkeit ist.

Vivien Whyte ist Präsident der Europäischen Union der Rechtspfleger. Der Franzose mit schottischen Wurzeln ist Direktor am Amtsgericht Straßburg.

Aus dem Englischen von Christian Moos

 

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